Interdisziplinärer Forschenden-Austausch Bericht über den SPP 1921 Tandem-Workshop 2022 in Frankfurt a.M.

Eine zentrale Aufgabe der Koordination interdisziplinär zusammengesetzter Forschungsprojekte ist es, den gemeinsamen Austausch unter den Forschenden über die einzelnen Projekte hinweg zu ermöglichen. Im SPP 1921 finden hierzu jährliche Workshops statt, zu denen alle Projektbeteiligte eingeladen werden. So trafen sich 32 Forschende vom 28. – 30. März 2022 in Frankfurt a.M.

Fester Bestandteil dieser Treffen ist es, sich wechselseitig über das zwischenzeitlich erreichte und das weitere Vorhaben zu informieren. Darüber hinaus werden zentrale, zukunftsweisende Themen, die insbesondere für zukünftige Forschungsanträge relevant sind, vorgestellt und weitere gemeinsame Aktivitäten geplant.

So haben wir uns sehr gefreut Professorin Dr. Ruth Müller von der TUM zum Thema „Gender Awareness in Forschung und Antragstellung“ begrüßen zu dürfen. Geplant wurde dann noch der gemeinsame Abschlussworkshop vom 11.- 14. Juli 2023, zu dem auch PraktikerInnen und interessierte Öffentlichkeit an der Arbeit des SPP 1921 nach Kaiserslautern eingeladen wird. 2022 stand nach zwei Jahren ohne Präsenz-Veranstaltungen und reinem online Austausch auch wieder der persönliche Kontakt unter den Forschenden im Fokus.

Zu Beginn der Arbeit des SPP 1921 standen die Workshops erst einmal im Zeichen der Erarbeitung eines gemeinsamen inhaltlichen, fachlichen und methodischen Verständnisses zwischen den einzelnen beteiligten Disziplinen und Lehrstühlen. Wechselseitige Einblicke in Forschungsmethoden, Präsentationen von Experimental-Designs halfen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Disziplinen ein tiefes Verständnis für die Arbeit, Foki und Interessen der anderen Beteiligten zu wecken. Nach nunmehr sechs Jahren parallelen und gemeinsamen Forschens ist die wechselseitige Freude über Erreichtes und die Neugier auf das noch Kommende umso größer.

Das SPP 1921 Intentional Forgetting in Organisationen:
Das Förderinstrument des Schwerpunktprogramms (SPP) ist mit über 50-jähriger Historie das älteste Förderinstrument der DFG (Deutschen Forschungsgemeinschaft). Das SPP 1921 ist ein Verbund aus insgesamt 8 interdisziplinären Forschungstandems, mit Forschenden an 20 Lehrstühlen, die an 14 deutschen Universitätsstandorten beheimatet sind. In jedem der 8 Tandems forschen in der Regel Wirtschaftspsychologen/-psychologinnen gemeinsam mit Informatiker*innen, Wirtschaftsinformatiker*innen oder Ingenieur/Ingenieurinnen zu verschiedenen Aspekten des intentionalen Vergessens.
Das SPP 1921 nahm seine Arbeit 2016 auf und befindet sich jetzt in der finalen zweiten Förderphase.
Die Koordination des gesamten SPP 1921 obliegt Professorin Dr. Annette Kluge, Inhaberin des Lehrstuhls Wirtschaftspsychologie an der Ruhr-Universität Bochum.
Weitere Informationen zum SPP 1921: www.spp1921.de und https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/273893956.

Intentionales Vergessen:
Intentionales Vergessen beschreibt willentliches Vergessen. Hierbei steht im Wesentlichen im Vordergrund, dass Vergessen irrelevante und nicht mehr benötigte Informationen von weiterer Nutzung ausschließt. Dies entlastet und führt dazu, dass Verarbeitungsressourcen für eine schnellere- und bessere Verarbeitung der relevanten Informationen zur Verfügung stehen. Zum anderen wird es als Voraussetzung von erfolgreichem Wandel erachtet. Hier soll nur noch das Neue und nicht mehr das Alte zur Anwendung kommen.
Im Rahmen des SPP 1921 werden nicht nur Vergessensprozesse einzelner Individuen, sondern auch von Teams, sozio-technischen Systemen und ganzer Organisationen insbesondere im Anwendungskontext von Produktion und Verwaltung untersucht.

Unter anderem berichtete das Forschungstandem des Projekts „AdaptPRO 2 – Adaptive Prozess- und Rollengestaltung in Organisationen“ an der Universität Trier von Ihrer Arbeit zur Übertragung von Vergessensmodellen in einen sozio-digitalen Teamkontext. Hierbei kommt es aus Perspektive der Wirtschaftsinformatik auf die Modellierung der Wissensverteilung bei komplexen Aufgabenstrukturen und die Gestaltung der Funktionsteilung an.
Diese kann dann in Simulationsmodelle und Szenarien übertragen werden. Aus Perspektive der Wirtschaftspsychologie steht die Entwicklung eines Analyseinstruments für sozio-digitale Schnittstellen im Fokus. Hier stehen Fragen der Machbarkeits- und Akzeptanzanalyse, der Störungsanalyse, sowie der Ableitung von Anwendungswissen für die Personal- und Organisationsentwicklung im Sinne einer partizipativen Systemgestaltung und individueller Anforderungen und Kompetenzen für Personalauswahl und Training im Vordergrund. Neben der Zustandsanalyse und Formalisierung des intentionalen Vergessens durch sozio-digitale Funktionsteilung geht es dem Tandem in seiner Arbeit auch um die Gestaltung sozio-digitaler Funktionsteilung als intentionalem Vergessens-Prozess und um Gestaltungs- sowie Entwicklungsmaßnahmen zur Planung von intentionalem Vergessen in sozio-digitalen Teams.
Hierbei wird im Wesentlichen die Interdependenz zwischen menschlichen Nutzern und digitalen Zwillingen untersucht.

Das Projekt „Cyber-physical Forgetting in sozio-digitalen Systemen“ an den Universitäten Potsdam und Bochum berichtete von seinen aktuell noch laufenden Untersuchungen. Hier werden bei der Veränderung einer Produktionsroutine eine episodische (alle Veränderung auf einmal) und eine kontinuierliche (schrittweise Veränderung über mehrere Produktionen hinweg) Einführung der Veränderungen einander gegenübergestellt. Die Wirtschaftspsychologen/-psychologinnen interessiert dabei besonders, wie die menschlichen Nutzer*innen die Veränderung bewältigen. Die Wirtschaftsinformatiker*innen gestalten die technologische Infrastruktur, integrieren künstliche Intelligenz und interessieren sich für die Wissensverteilung unter den technischen Komponenten sowie die Skalierbarkeit bzw. Unabhängigkeit einzelner System-Komponenten.
Parallel wird eine kommunale Verwaltung in ihrem Digitalisierungsprozess von den Forschenden evaluativ begleitet und beraten.

Das Projekt „Getrost Vergessen“ an der Universität Münster untersucht Determinanten und Auswirkungen einer vertrauensvollen Nutzung von Informationssystemen in Organisationen. Hierbei soll gerichtetes Vergessen zu einer Entlastung führen. Als zentrale Voraussetzung dafür, dass dieser Entlastungseffekt eintritt, untersuchen die Forschenden die Bedeutung von Vertrauen in das Informationssystem. In der jetzigen zweiten Förderphase werden die gewonnenen Erkenntnisse der ersten Förderphase im Feld mit Praxispartner*innen bei der Einführung neuer Informationssysteme in Organisationen validiert.

Das Projekt „iVAA intentionales Vergessen von Arbeitsverhalten im Alltag“ an den Universitäten Trier und Mannheim beschäftigt sich mit einer Technologie basierten Unterstützung von Beschäftigten beim Austausch unerwünschter Gewohnheiten gegen eine erwünschte alternative Verhaltensweise. Präsentiert wurden verschiedene Prototypen, Displays, aber auch Smart-Devices, die Mitarbeitende immer wieder daran erinnern, Alternativ-Verhalten auszuführen, um so vorher identifizierte Gewohnheiten nicht mehr auszuführen - zu vergessen. Neben direkten Fragen der positiven Wirkung auf das tatsächliche Vergessen der unliebsamen Gewohnheit interessiert die Forschenden auch, wie sehr die technologische Unterstützung in den originären Arbeitsprozess eingreift und wie sehr sie ihn unterbricht und aufhält. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen u. a. zur Erstellung generalisierter Designrichtlinien für persuasive Systeme im Kontext eines user-centered design process.

Das Projekt „Dare2Del – Lernen zu Löschen: Vergessen digitaler Objekte als Gemeinschaftsaufgabe von Mensch und KI“ an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Bamberg entwickelt eine intelligente Löschassistenz. Untersucht werden die technologische Ausgestaltung einer Assistenz, die menschliche Nutzende von Systemen bei der Löschung irrelevanter Daten unterstützt, sowie die Wirkung des Einsatzes der Assistenz auf den Nutzenden und seine Interaktion mit der Assistenz.
Hierbei wird insbesondere auch darauf eingegangen, inwiefern menschliches Vergessen durch Löschen von Daten unterstützt wird und welche Bedeutung interindividuellen Unterschieden und organisationalen Rahmenbedingungen zukommt.

Im Fokus des Projektes „Managed Forgetting – Nachhaltige evolutionäre Unternehmensgedächtnisse: Methoden und Effekte von Managed Forgetting für die administrative Wissensarbeit“ an den Universitäten Hannover, Trier, der TU Kaiserslautern, der PH Ludwigsburg und dem DFKI, dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern steht der Begriff des Memory Buoyancy (Informationswert). Auf Grundlage des ermittelten Informationswertes treibt das Projekt die Entwicklung einer intelligenten Assistenzsoftware voran, die als relevant eingeschätzte Informationen fokussiert und als weniger relevant eingeschätzte Informationen in den Hintergrund stellt. Durch Informationsreduktion und Aggregation werden organisationale Ressourcen eingespart. Festgestellt wurde auch, dass der Einsatz der Assistenzsoftware durch „kognitives Offloading“ zu einer besseren kognitiven Performance menschlicher Nutzender in einem arbeitsähnlichen Kontext führt. Hierbei hängen die Nutzungsabsicht und das Vertrauen in die Assistenz von ihrer Transparenz ab. Neben ihrer Forschung zu Nutzen und Nutzung der Assistenz entwickeln die Wissenschaftler*innen die Software permanent weiter.

Das Projekt „FADEp - Intentionales Vergessen und Änderung in Arbeitsprozessen: Ein prozesskonditional-orientierter Ansatz in Verwaltungs- und IT Kontext“ der Universitäten Hagen, Freiburg und der TU Dortmund erarbeiten ein Formal-psychologisches Framework zur Darstellung und Simulation von Prozessen und Arbeitsabläufen in Organisationen. Mit ihrem Ansatz verbinden die Forschenden eine formale und eine kognitive Ebene. Auf der formalen Ebene werden Arbeitsprozesse und ihre Veränderungen modelliert, Prozess-Inkonsistenzen identifiziert, sodass auf der kognitiven Ebene über vorgeschlagene Handlungsalternativen, die intentionales Vergessen ermöglichen, kognitive Entlastungen erzielt werden können.

Ein weiteres Highlight des Workshops war die Keynote von Professorin Dr. Ruth Müller zum Thema „Gender Awareness in Forschung und Antragstellung“. In Ihrem Vortrag sprach Frau Professorin Dr. Müller insbesondere darüber, dass Forschung sich allzu oft noch an einem rein maskulin geprägten „Weltbild“ orientiert. Nicht ausreichend werden Befunde, aber auch Methoden darauf überprüft, ob sie für Frauen und Männer in gleicherweise anwendbar und gültig sind. Im Weg steht uns hierbei auch, dass wir Geschlecht als dichotom ausgeprägt, als einander wechselseitig ausschließende Kategorien verstehen. Frau Professorin Dr. Müller lud dazu ein, die Variable Geschlecht als ordinalskaliert zu begreifen, die Raum für relative Zuordnungen und eine Einordnung zwischen den beiden Polen ermöglicht. Der Beitrag entfachte insbesondere unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine rege Diskussion über die Anwendbarkeit und Umsetzung, bezogen auf die eigene Forschung und auf mögliche zukünftige (erste) Anträge.

Abschließend gaben die Tandems noch einen Ausblick auf die von Ihnen geplanten Exponate, die anlässlich des Abschlussworkshops des SPP 1921 vom 11.- 14. Juli 2023 beim DFKI in Kaiserslautern einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Auf dem Abschlussworkshop wird es darum gehen, neben den gewonnenen Erkenntnissen aus 6 Jahren Forschung auch die praktische Anwendung der Arbeiten im organisationalen Arbeitskontext, konkret im Kontext von Produktion und Verwaltung, prototypisch vorzustellen.

Arnulf Schüffler